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Die wundersame Welt des Karol Wojtyla

Was verbirgt sich hinter dem Mythos des polnischen Papstes Johannes Paul II.?

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Foto: Eric Draper (wikipedia)

Anlässlich der Heiligsprechung von Johannes Paul II. am 27. April veröffentlicht die Giordano-Bruno-Stiftung das ausführliche Portrait, das gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon im April 2005, kurz nach dem Tod Wojtylas, über das Leben und Wirken des polnischen Papstes gezeichnet hat. Der hier dokumentierte Text folgt der Originalversion des Artikels, die im Heft 2/2005 der Zeitschrift "Materialien und Informationen zur Zeit" (MIZ) veröffentlicht wurde. Später wurde der Text u.a. im Sammelband "Anleitung zum Seligsein" sowie in erweiterter, aktualisierter Fassung im Nachwort zu Karlheinz Deschners Buch "Die Politik der Päpste" abgedruckt.

 

 

Dr. Michael Schmidt-Salomon (April 2005)

Die wundersame Welt des Karol Wojtyla

Nachruf auf einen Mann von vorgestern, der die Welt von heute geprägt hat

Zumindest eines kann man dem verstorbenen Karol Wojtyla wohl nicht vorwerfen: dass er ein Heuchler gewesen sei. Anders als viele seiner Untergebenen glaubte der polnische Papst tatsächlich an den Spuk, den er verkündete. Für ihn waren Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Engel und Dämonen keinesfalls antiquierte Begriffe, die man bloß symbolisch zu deuten habe, nein, er sah darin unbestreitbare Realitäten. Paradoxerweise war es gerade diese Fähigkeit zum ungefiltert vormodernen Denken, die Johannes Paul II. in die Lage versetzte, der modernen Welt seinen Stempel aufzudrücken.

Geboren wurde Karol Wojtyła am 18. Mai 1920 in der polnischen Kleinstadt Wadowice.[1] 1938 zog er mit seinem Vater (die Mutter war schon 1929 verstorben) nach Krakau, wo er sich im selben Jahr zum Studium von Philosophie und Literatur einschrieb. Während der deutschen Okkupation wurde Wojtyla für schwere Arbeit in einem Steinbruch sowie einer Chemiefabrik zwangsverpflichtet. In seiner Jugend schrieb er nicht nur Gedichte und Theaterstücke, er war offensichtlich auch ein durchaus fähiger Schauspieler. Dass ihm dieses Talent später in seiner Lebensrolle als Pontifex Maximus der katholischen Kirche nutzte, ist kaum zu bezweifeln, allerdings geht die von manchen Kritikern geäußerte Vermutung[2], er habe auch im Papstamt vornehmlich „geschauspielert“, sicherlich an der Wirklichkeit vorbei. Wie sein langjähriger Kooperationspartner aus dem Weißen Haus, US-Schauspieler-Präsident Ronald Reagan, übernahm Wojtyla nicht bloß die Rolle des von Gott gesandten „Weltmissionars wider das Reich des Bösen“, beide glaubten tatsächlich, von „höheren Mächten“ für diese  „heilige Mission“ auserwählt worden zu sein.[3]

Den Entschluss, Priester zu werden, traf Wojtyla 1942. Er trat dem Untergrundseminar der Erzdiözese Krakau bei und wurde 1946 zum Priester geweiht. 1949 promovierte er in Krakau mit einer Arbeit zum „Humanismus des heiligen Johannes vom Kreuz“. Danach ließ sich Wojtyla vom Priesteramt beurlauben, um sich habilitieren zu können. Die Idee einer universitären Karriere gab er jedoch spätestens 1958 wieder auf, als er überraschend zum Weihbischof von Krakau ernannt wurde. Von da an war sein Aufstieg innerhalb der Ständehierarchie der katholischen Kirche schier unaufhaltsam. 1964 erfolgte die Ernennung zum Erzbischof, schon 1967 wurde er in den Kardinals-Rang erhoben. Am 16. Oktober 1978 wurde er als Nachfolger des nach 33 Tagen Amtszeit verstorbenen Johannes Paul I.[4] zum Papst der katholischen Kirche gewählt – ein Ereignis mit welthistorischer Bedeutung, wie sich bald herausstellte.

 

Der polnische Papst und der Zusammenbruch der Sozialismus

Dass mit Karel Wojtyla der erste nichtitalienische Papst seit dem Niederländer Hadrian VI. (gestorben 1523) das Amt antrat, verblüffte die Öffentlichkeit, war aber zweifellos eine strategisch kluge Entscheidung der Kardinalsversammlung. Die kommunistischen Machthaber im Osten erkannten die Zeichen der Zeit sofort. General Kiszczak, der damalige Chef des polnischen Geheimdienstes, meinte später, die Papstwahl sei der entscheidende Moment gewesen, der den Niedergang des kommunistischen Regimes besiegelte: „Das war der Anfang vom Ende. Ich hatte eine denkwürdige Begegnung, 1978, am Tag, als der sogenannte 33-Tage-Papst plötzlich in Rom gestorben war. Nur wenige Stunden später traf ich in Warschau zwei Mitglieder des polnischen Episkopats und fragte sie so nebenbei: Wer wird denn der nächste? Ich dachte mir nichts dabei, es war so eine Art Spielerei. Die beiden, ich weiß es wie heute, schauten mich erstaunt an und erwiderten: Wie, das wissen Sie nicht? Nein, sagte ich, wie sollte ich? Und dann sagten sie mit großem Ernst und absoluter Sicherheit: Das wird unser Wojtyla aus Krakau. Ich lachte sie aus und ließ sie stehen. Wenn ich ihre Aussage auch nur einen Moment lang ernst genommen hätte, hätten wir mit unseren Mitteln noch gegensteuern können. Schließlich kannten wir ja unseren Wojtyla.“[5]

Ob die CIA wirklich die Wahl Wojtylas gefördert hatte, wie Kiszczak vermutete, sei einmal dahingestellt, da es für einen solchen Vorgang keine stichhaltigen Belege gibt. Dass seine Wahl von den Verantwortlichen in den USA jedoch enthusiastisch begrüßt wurde, ist ohne Zweifel. Der ehemalige CIA-Vizedirektor Vernon Walters kommentierte die Papstwahl folgendermaßen: „Da hatten die Sowjets eine Schlacht verloren. Ein Mann des Ostens - aus dem größten katholischen Land - kennt das System besser als jeder von uns aus dem Westen. Und so sahen es wohl auch seine polnischen Bischöfe: Statt einer Gratulation zur Papstwahl schickten sie Wojtyla das Gedicht eines berühmten Polen aus dem Jahr 1839: ‘In Zeiten großer Verwirrung in der Welt und Zerrissenheit in der Kirche wird Gott einen Mann schicken, der die Wahrheit Gottes zu ihrem Recht verhilft‘.  [...] Und da war er gekommen: der slawische Papst. Schon diese Tatsache hat die Dinge verändert.“[6]

Im Juni 1979 besuchte Wojtyla das erste Mal als Papst sein Heimatland Polen. Kurze Zeit später (1980) wurde dort die Gewerkschaft Solidarnosc gegründet, an dessen Spitze der glühende Papstverehrer Lech Walesa stand. Ab Frühjahr 1981 entwickelte sich ein enger Informationsaustausch zwischen dem Vatikan und Washington. CIA-Direktor William Casey und Vernon Walters besuchten in meist geheimen Missionen den Papst, um mit ihm vor allem über die Entwicklungen in Polen zu korrespondieren. Am 7. Juni 1982 kam es zu einem Treffen zwischen US-Präsident Ronald Reagan und dem Papst im Vatikan, der vorläufige Höhepunkt der sog. „Heiligen Allianz“ zwischen den USA und dem Vatikan. Einen Tag später hielt Reagan in London einen Vortrag über die Grundzüge westlicher Politik. Dabei stand Polen im Mittelpunkt der Rede. Reagan sprach von einer „großen revolutionären Krise“ in Osteuropa, einem „Kreuzzug der Freiheit“, sagte „explosionsartige Unruhen“ voraus und kündigte das Ende des Sowjetregimes an.[7]

Wie wir mittlerweile wissen, unterstützte Johannes Paul II. den Unbruch in seinem Heimatland nicht nur mit Worten, sondern auch mit harter Währung. Die verdeckte Finanzierung von Solidarnosc musste damals natürlich unter größter Geheimhaltung erfolgen, heute, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, ist die Operation allerdings kein Staatsgeheimnis mehr. Prälat  Henryk Jankowsky, Beichtvater Walesas und wichtigster Kampfgefährte des Papstes in Polen schilderte das vatikanische Engagement folgendermaßen: „In der Situation, in der sich Polen damals befand, wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass der Papst seine eigenen Nächsten, seine armen, gequälten Landsleute, die im Gefängnis saßen und interniert wurden, im Stich gelassen hätte. Er hat alles unterstützt, was auch der Expansion der Kirche diente. [...] Wenn man Kriege führen will, muss man Geld dafür haben. Wenn man sie fortsetzen will, braucht man ebenfalls Geld. Und wenn man einen Krieg gewinnen will, braucht man noch mehr Geld.“[8]

 

Der Vatikan heiligt die Mittel

Fragt man nach den Quellen des Geldes, das der Vatikan so generös unter die polnischen Aktivisten brachte, stößt man fast unweigerlich auf einen Finanz- und Politik-Skandal, der die italienischen Gerichte über Jahrzehnte hin beschäftigte, die Affäre um Roberto Calvi und die Banco Ambrosiano. Am 18. Juni 1982, zu dem Zeitpunkt, als die vatikanische Polenhilfe ihren ersten Höhepunkt erreichte, fand man unter der Londoner Blackfrias Bridge (höchst symbolträchtig: die „Brücke der schwarzen Brüder/Mönche“!) die Leiche des einst mächtigen Bankiers Roberto Calvi. Die englischen Ermittler kamen nach der ersten Autopsie zu dem Ergebnis, es habe sich um Selbstmord gehandelt. Die Motive schienen auf der Hand zu liegen: Calvi hatte als Chef der katholischen Banco Ambrosiano den größten Bankchrash der europäischen Geschichte zu verantworten. In der Kasse seiner Bank klaffte ein Loch von 1,3 Milliarden Dollar. Der einstige „Bankier Gottes“ war wenige Tage vor seinem Tod aus Italien geflohen, um sich - wie es schien - der drohenden Verhaftung zu entziehen. Vergeblich habe er versucht, sich und die Bank noch zu retten. Als er einsah dass es keinerlei Ausblick auf  Rettung gab, soll er sich das Leben genommen haben.

Im Laufe der Jahre häuften sich allerdings die Hinweise, die diese Selbstmordthese arg in Frage stellten. Dabei war ein mehr oder weniger zufälliger Fahndungserfolg von besonderer Bedeutung: Bei einer routinemäßigen Hausdurchsuchung eines bekannten Mafioso fanden sich zur Überraschung der Ermittler zahlreiche Briefe, Schecks und Tonbandaufzeichnungen, die belegten, dass der Vatikan einige Milliarden Lire für den Erwerb jener mysteriösen Dokumente zahlte, die Roberto Calvi vor seinem Tod in seiner Aktentasche verstaut hatte.[9] (Bischof Hnilica, der den Deal mit den Mafialeuten einfädelte, wurde später wegen Hehlerei verurteilt.) Der Inhalt der Dokumente aus Calvis Aktentasche, die - so sie nicht vernichtet wurden - heute irgendwo in den Geheimarchiven des Vatikans lagern, müssen höchst explosiv gewesen sein. Calvi, der sie wie seinen Augapfel hütete,  sah in ihnen die beste Lebensversicherung. Gegenüber seiner Frau erklärte er kurz vor seinem Tod: „Wenn sie mich umbringen, wird der Papst abdanken müssen.“[10]

Was Calvi damit gemeint haben könnte, ahnten die Ermittler, als sie auf der Suche nach dem Verbleib der verschwundenen Banco Ambrosiano-Gelder einem Netz von vatikanischen Briefkastenfirmen auf die Spur kamen. 1987 erließ die italienische Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen die Verantwortlichen der Vatikanbank Luigi Mennini und Erzbischof Paul Marcinkus wegen „betrügerischen Bankrotts.“ Allerdings kam es nicht zur Verhaftung. Dank der Intervention des „großen Paten der italienischen Politik“, Giulio Andreotti, wurden sie als „Leiter einer ausländischen Bank“ in Italien für straffrei erklärt.[11]

Die italienischen Staatsanwälte ließen aber nicht locker. Angesichts der neuen Indizien war im Mai 1991 der Weg frei, ein neues Untersuchungsverfahren zum „Mord an Roberto Calvi“ zu eröffnen. Im Dezember 1998 - also 16 Jahre nach dem grausigen Fund unter der Londoner Blackfrias Bridge - wurde die Leiche von Roberto Calvi abermals exhumiert und einer Autopsie unterzogen. Das Ergebnis war diesmal eindeutig: Roberto Calvi war das Opfer eines Gewaltverbrechens.[12]

Wer aber hatte Interesse an der Ermordung des Bankiers Gottes? Sobald man dieser Frage nachgeht, wird aus dem Mordfall Calvi eine Affäre mit weltpolitischen Dimensionen. Calvi hatte zusammen mit dem Leiter der Vatikanbank Erzbischof Paul Marcinkus ein hochkomplexes Netzwerk an Scheinfirmen aufgebaut.  Diese von höchsten Vatikankreisen abgesegneten und auch vom immer mächtiger werdenden Opus Dei unterstützten Unternehmungen dienten vor allem einem Ziel  -  dem „heiligen Kreuzzug“ gegen den „gottlosen Kommunismus“, der damals noch weitgehend unangefochtenen Staatsideologie des Ostblocks.

Folgt man den Nachforschungen der investigativen Journalisten Robert Hutchison und vor allem Heribert Blondiau und Udo Gümpel, die die letzten Tage Calvis mit bewundernswerter Akribie rekonstruiert haben, beging der Bankier Gottes kurz vor seinem Tod einige verhängnisvolle Fehler: So war für den 31. Mai 1982 ein Treffen mit einer Gruppe hochrangiger Kardinäle vereinbart worden, auf dem Calvi dem Vatikan klarmachen wollte, dass dieser sich am Abtragen der enormen Schuldenberge der Banco Ambrosiano beteiligen müsse. Doch der Versuch schlug fehl. Calvi tauchte vor dem Treffen mit der Kardinalskommission in der Vatikanbank IOR auf und geriet in Streit mit Luigi Mennini. Er drohte, einen Riesenskandal zu produzieren, falls das IOR seine Schulden nicht bezahlen würde.  Mennini ließ Calvi hinauswerfen, das Versöhnungstreffen am Nachmittag wurde abgesagt.[13]

Am 5. Juni 1982 schrieb Calvi einen Brief an Johannes Paul II., in dem er diesen bzw. den Vatikan unter Druck setzte. Calvi beklagte sich beim Pontifex bitterlich: „Auf das ausdrückliche Ersuchen Eurer verfügungsberechtigten Vertreter hin habe ich Finanzierungen für viele Länder und politisch-religiöse Gruppierungen im Osten wie im Westen zur Verfügung gestellt. Ich war es, der auf Wunsch der vatikanischen Behörden in ganz Süd- und Mittelamerika die Schaffung zahlreicher Bankunternehmen koordinierte – mit dem Ziel, neben allem anderen das Vordringen  und die Ausweitung marxistischer Ideologien einzudämmen. Nach all dem bin ich nun derjenige, der hintergangen und fallengelassen worden ist von eben jenen Instanzen, denen ich stets den größten Respekt und Gehorsam erwies.“[14]

Im Vatikan stieg die Befürchtung, dass Calvi über die unsauberen Geschäfte der Vatikanbank sowie insbesondere die Finanzierung von Solidarnosc auspacken würde. Der Bankier selbst tat sein Möglichstes, um diesen Eindruck noch zu verstärken. So erklärte er gegenüber dem zwischen Vatikan und Mafia vermittelnden „Geschäftsmann“ Carboni: „Wenn der Vatikan nicht zahlt, dann nach mir die Sintflut.“[15] Keine zwei Wochen später fand man seine Leiche unter der Londoner Brücke.

Ein Zufall? Wohl kaum. Man muss bedenken, was damals auf dem Spiel stand: Der Papst enttarnt als konspirativer Partner von CIA und Solidarnosc – finanziell und logistisch unterstützt von der Mafia, Opus Dei und der faschistischen Geheimloge P2, der u.a. Calvi angehörte – wäre diese Konstellation Anfang der 80er Jahre bekannt geworden, hätte sich hieraus ein bedrohlicher weltpolitischer Konflikt entwickeln können. Gegen die Zufallsthese spricht zudem, dass nur wenige Jahre nach der Ermordung Calvis ein zweiter wichtiger Berater der Vatikanbank, Michele Sindona, ebenfalls unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Als dieser 1986 in Hoffnung auf Strafmilderung auspacken wollte – Sindona hatte die Geschäfte zwischen Vatikan und Mafia eingefädelt – wurde ihm im Gefängnis eine Tasse Zyankali-Kaffee serviert.[16] Auf diese Weise nahm auch Sindona seine Geheimnisse mit ins Grab.

Wie detailliert Johannes Paul II. in die Machenschaften seiner Untergebenen eingeweiht war, lässt sich im Nachhinein schwerlich ermitteln. Klar ist jedoch erstens, dass er es war, der die grobe Zielrichtung der vatikanischen Politik „absegnete“, sowie zweitens, dass die über illegale Kanäle erwirtschafteten und weitergeleiteten finanziellen Spritzen für Solidarnosc ihr Ziel nicht verfehlt haben. Wenn Experten wie der ehemalige US-Außenminister Alexander Haig heute in Wojtyla (bzw. dem Vatikan) den entscheidenden Faktor für den Zusammenbruch des Ostblocksozialismus sehen[17], so ist dies wahrscheinlich nicht einmal arg übertrieben. Allerdings muss man einschränkend hinzufügen, dass sämtliche vatikanischen Bemühungen wohl wirkungslos verpufft wären, wenn sich damals der Ostblock im Allgemeinen und die polnische Wirtschaft im Besonderen nicht in einer schweren Krise befunden hätten.

Dies wusste auch Wojtyla – und so antwortete er auf die Frage, inwieweit er persönlich den Untergang des Kommunismus beeinflusst habe, mit einem treffenden Bild: „Der Baum war schon in seinem Inneren verfault. Ich habe ihn nur noch ordentlich geschüttelt, und dabei sind die verfaulten Äpfel heruntergefallen.“[18] Nach allem, was heute bekannt ist, gehörte auch der ehemalige Schüttelgehilfe Roberto Calvi zu den „verfaulten Äpfeln“, die die vatikanische Ernteaktion nicht heil überstanden haben.

 

Die wundersame Welt des Karol Wojtyla

Im Zuge der Nachforschungen über die verdeckte Unterstützung politisch-religiöser Gruppen im Osten wurde immer wieder gemutmaßt, dass das Opus Dei die damalige prekäre finanzielle Situation der Kirche ausgenutzt habe, um seine Position innerhalb der katholischen Ranghierarchie aufzuwerten.[19] In der Tat hat das „Werk Gottes“ unter Johannes Paul II. eine Aufwertung sondergleichen erfahren. Nicht nur, dass Wojtyla den fundamentalistischen Ordensgründer Escriva im Eilverfahren erst selig und dann heilig sprach, er schuf für die Organisation zudem einen neuen, exklusiven Rechtsstatus („Personalprälatur“) und bemühte sich, freiwerdende hohe Posten innerhalb der katholischen Amtshierarchie vornehmlich mit Opus Dei-Kandidaten zu besetzen.[20]

Es darf allerdings stark bezweifelt werden, dass der Papst mit diesen Aktivitäten bloß einem vorab verabredeten Tauschgeschäft nachkam, Escrivas Jünger also nur dafür belohnte, dass sie der Kirche enorme Geldquellen zur Verfügung gestellt hatten. Von mindestens ebenso großer Bedeutung dürfte der Umstand gewesen sein, dass das Weltbild Wojtylas nahezu deckungsgleich war mit dem der Opus-Dei-Hardliner.

Auch in Wojtylas von Engeln und Dämonen bewohnten Kosmos kam das „Gute“ stets „von oben“, niemals „von unten“, weshalb er in dem naiv-basisdemokratischen „Kirchenvolksbegehren“ einen fundamentalen Anschlag auf die katholische Denktradition erkennen musste.[21] Sein Verständnis von Autorität, Gehorsam und Heiligkeit stand in völligem Einklang mit der Doktrin des von ihm heilig gesprochenen, zuvor bereits vom spanischen Diktator Franco geförderten Kleriko-Faschisten Josemaria Escriva: „Gehorchen ... sicherer Weg. Den Vorgesetzten mit rückhaltlosem Ver­trauen gehorchen..., Weg der Heiligkeit. Gehorchen in deinem Apostolat..., der einzige Weg; denn in einem Werk Gottes muss dies der Weg sein: dass man gehorcht oder geht.“[22]

Wie für Escriva war für Wojtyla der „Teufel“, das „an sich Böse“, keine bloße Metapher, sondern ein unbezweifelbarer Bestandteil der Realität.[23] Deshalb nahm der polnische Papst nicht nur selbst Teufelsaustreibungen vor, er sorgte auch dafür, dass das Regelwerk für den Exorzismus 1999 – erstmalig seit 1614! – aktualisiert wurde.[24] Ebenso zentral wie Wojtylas Glaube an die reale Existenz des „bösen Feinds“ war seine ekstatische  Marienfrömmigkeit – vielleicht die wichtigste Parallele zu Escrivas Heilslehre[25]. Insbesondere die vermeintlichen Marienerscheinungen in Fatima hatten Wojtylas Denken geprägt und es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaupten, dass das sog. „Wunder von Fatima“ das zentrale Ereignis war, aus dem der polnische Papst seine besondere „Mission“ ableitete. Wer das Handeln Johannes Paul II. wirklich verstehen will, tut daher gut daran, sich eingehender mit dieser nach Einschätzung katholischer Theologen „wichtigsten Privatoffenbarung des 20. Jahrhunderts“ zu beschäftigen. [26]

In Fatima soll sich - so berichtet uns die kirchenamtlich beglaubigte Legende - im Jahre 1917 Erstaunliches zugetragen haben. Während Zehntausende die Sonne tanzen sahen (was, wenn es wirklich geschehen wäre, freilich zu einer globalen geologischen Katastrophe geführt hätte!), waren die kleinen Hirtenkinder Lucia, Francisco und Jacinta dos Santos dazu erkoren, der Gottesmutter Maria (Tarnname: „Unsere Liebe Frau von Fatima“) sechsmal hintereinander zu begegnen. Die Jungfrau ließ die 7-10jährigen Kindern (von Jugendschutzparagraphen hielt die Gottesmutter offenbar nichts!) wissen, dass die sündige Welt eine furchtbare Strafe Gottes zu erwarten habe, und verriet ihnen ein dreiteiliges Geheimnis, das so schrecklich war, dass selbst gestandenen Kirchenleuten Tränen in den Augen standen.

Der erste Teil des Geheimnisses bestand in einer schrecklichen Vision der Hölle, in der die sündigen Menschen auf ewig gebraten werden – salopp formuliert, eine Art „jenseitiges Auschwitz“ mit Engeln als „Selektionären an der himmlischen Rampe“.[27] Im Prinzip war dieses Geheimnis eigentlich gar keines, denn der synoptische Jesus hatte die Existenz der Hölle ja schon längst „verraten“, so zum Beispiel durch seine Ankündigung, dass seine Engel die Guten von den Bösen trennen und die Bösen, „in den Ofen werfen“ werden.[28]

Der zweite Teil des Geheimnisses war da schon geheimnisvoller, schien auf mysteriöse Weise den zweiten Weltkrieg und die Machtübernahme der ungläubigen Kommunisten in Russland anzukündigen – eine Todsünde vor dem Herrn, die nur durch die bußvolle Umkehr Russlands und dessen Weihe an das „Unbefleckte Herz Mariens“ gesühnt werden könne. Hier der offizielle Wortlaut der „Prophezeiung“: „Der Krieg [gemeint ist der 1. Weltkrieg, MSS] wird ein Ende nehmen. Wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Papst Pius XII. ein anderer, schlimmerer beginnen. Wenn ihr eine Nacht von einem unbekannten Licht erhellt seht, dann wißt, daß dies das große Zeichen ist, daß Gott euch gibt, daß Er die Welt für ihre Missetaten durch Krieg, Hungersnot, Verfolgungen der Kirche und des Heiligen Vaters bestrafen wird. Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Rußlands an mein unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats zu verlangen. Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Rußland sich bekehren und es wird Friede sein. Wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Rußland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.“[29]

Was merkwürdigerweise bei der Berichterstattung zum fabelhaften Fatimageheimnis, die anlässlich des Todes der letzten „Seherin“ Lucia dos Santos im Februar 2005 noch einmal aufblühte, völlig ignoriert wurde, ist, dass diese angebliche Prophezeiung aus dem Jahr 1917 nach offiziellen vatikanischen Angaben[30] erst am 31. August 1941 niedergeschrieben wurde, also zu einem Zeitpunkt, an dem die vermeintlich prophezeiten Ereignisse längst schon eingetroffen waren!  Dieses offenkundige „prophetische Missgeschick“ änderte jedoch nichts daran, dass man Lucias Visionen Glauben schenkte. Schon ein Jahr später, 1942, weihte Papst Pius XII. die Welt dem „Unbefleckten Herz Mariens“, genauso wie es die Jungfrau angeblich gewünscht hatte, zwei Jahre später ordnete er das „Fest des Unbefleckten Herzens Mariä“ am 22. August an.

Knapp vierzig Jahre später nahm Johannes Paul II. die fantastischen Schilderungen Lucias nicht nur ebenfalls für bare Münze, er war felsenfest davon überzeugt, dass er, der „slawische Papst“, derjenige sei, den „Gott“ dazu erkoren habe, die Umkehr Russlands einzuleiten und das Christentum vereint ins nächste Jahrtausend zu führen. Aus diesem Glauben leitete sich sein enormes Engagement für den Umsturz im Osten, aber auch für die Eliminierung der marxistisch geprägten (= vom „bösen Feind“ infiltrierten) Befreiungstheologie in Lateinamerika ab. Die fixe Idee Wojtylas, von Gott zu dieser besonderen Mission berufen zu sein und dabei unter dem „besonderen Schutz der heiligen Jungfrau“ zu stehen, wurde zusätzlich gefestigt, als er am 13. Mai 1981 von dem Türken Mehmet Ali Agca auf dem Petersplatz in Rom niedergeschossen wurde und „wie durch ein Wunder“ (das freilich ausgeblieben wäre, wenn die Ärzte der Gemelli-Klinik gebetet hätten, statt ihn zu behandeln) überlebte.

Kaum genesen, ließ sich Wojtyla den versiegelten Umschlag bringen, der den Bericht über das bis dahin unveröffentlichte dritte Geheimnis von Fatima enthielt, den Lucia dos Santos am 3. Januar 1944 niedergeschrieben hatte.[31] Sie berichtete darin, von einem „in Weiß gekleideten Bischof“ und verschiedenen anderen Bischöfen, Priestern, Ordensmännern und Ordensfrauen, die einen steilen Berg hinaufsteigen. Wörtlich fährt sie fort: „Bevor er dort ankam, ging der Heilige Vater durch eine große Stadt, die halb zerstört war und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete. Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen. Genauso starben nach und nach die Bischöfe, Priester, Ordensleute und verschiedene weltliche Personen, Männer und Frauen unterschiedlicher Klassen und Positionen. Unter den beiden Armen des Kreuzes waren zwei Engel, ein jeder hatte eine Gießkanne aus Kristall in der Hand. Darin sammelten sie das Blut der Märtyrer auf und tränkten damit die Seelen, die sich Gott näherten.“[32]

Obgleich Rom im Mai 1981 nun keineswegs „halb zerstört“ war oder gar von Leichenbergen strotzte und obwohl die Fernsehbilder vom Attentat weder „Soldaten“ zeigten, die Heerscharen von Menschen erschossen, noch „Engel“, die mit blutgefüllten Kristallgießkannen hantierten, waren Wojtyla und seine Vertrauten (incl. der „Seherin“ Lucia dos Santos) überzeugt, dass sich die vermeintlichen Prophezeiungen von 1917 nun erfüllt hätten.[33] Der „in Weiß gekleidete Bischof“ war natürlich niemand anderes als er selbst, der slawische Papst, der vom Himmel geschickt worden war, um siegreich gegen die „verheerenden Irrtümer Russlands“ anzutreten.

Die päpstliche Errettung, die der ursprünglichen Prophezeiung ebenfalls widersprach, wurde auf das direkte Einwirken der Jungfrau Maria zurückgeführt. Wojtyla erklärte das an ihm praktizierte „Wunder“ gegenüber italienischen Bischöfen folgendermaßen: „Es war eine mütterliche Hand, die die Flugbahn der Kugel leitete und der Papst, der mit dem Tode rang, blieb auf der Schwelle des Todes stehen".[34] Angesichts solch schützender Gottesmutterliebe verstand es sich von selbst, dass Johannes Paul II. nicht lange zögerte, die Welt, alle Völker und Nationen, feierlich dem „Unbefleckten Herz Mariens“ zu weihen.

Wie stark Wojtyla sein eigenes Schicksal innerhalb des Deutungsrahmens der „Fatimaoffenbarungen“ verortete, zeigt der Umstand, dass die Kugel, die seinen Magen getroffen hatte, später in die Krone der Statue der Madonna von Fatima eingefasst wurde. Einen schöneren Beleg für die Richtigkeit des Deschnerschen Satzes „Dass Glaube etwas ganz andres sei als Aberglaube, ist unter allem Aberglauben der größte“[35], lässt sich wohl kaum finden.[36]

 

Das öffentliche Sterben des Papstes und der kollektive Hirntod der Kommentatoren

Wie sein geistliches Vorbild Escriva war auch Karol Wojtyla ein entschiedener Vertreter der sog. „Kreuzestheologie“. Diese ganz besondere Spielart der theologischen Jammertals-Rhetorik zeichnet sich dadurch aus, dass sie „alle möglichen Lebensvollzüge unter dem Stichwort ‚Opfer’ subsumiert und den Schmerz – schon des Schmerzes wegen – als Nachahmung des Kreuzes Christi begreift“[37]. Bei Escriva, von dessen „göttliche Eingebungen“ Johannes Paul II. zutiefst überzeugt war[38], gipfelte die Aufforderung, dem gekreuzigten Heiland zu folgen, in eine (außerhalb von sadomasochistischen Kreisen) wohl unerreichte Glorifizierung des Schmerzes: „Gesegnet sei der Schmerz. – Geliebt sei der Schmerz. – Geheiligt sei der Schmerz… Verherrlicht sei der Schmerz.“[39]

Erst vor diesem theologischen Hintergrund wird verständlich, warum Wojtyla so großen Wert darauf legte, gerade als kranker und sterbender Papst öffentlich präsent zu sein. Es ging ihm dabei keineswegs darum, mediale Aufmerksamkeit für die Not der Alten und Kranken zu erzeugen (wie Heerscharen von Journalisten bar allen Wissens vor sich hin spekulierten), er verstand sein öffentliches Leiden vielmehr als notwendigen Beitrag zur Verwirklichung eines obskuren „göttlichen Heilsplans“. Anders lässt sich jene kryptische Botschaft nicht interpretieren, die Wojtyla wenige Tage vor seinem Tod während der traditionellen Karfreitagsandacht am Kolosseum durch Kardinalvikar Ruini übermitteln ließ: „Auch ich opfere mein Leiden auf, damit sich der Plan Gottes erfülle und sein Wort zu den Völkern gehe“.[40]

Als die französische Zeitung Le Monde das öffentliche Leiden des Papstes kritisierte, brachte Kardinal Roberto Tucci den kreuzestheologischen Standpunkt des Papstes folgendermaßen auf den Punkt: „Der Papst macht sich das Pauluswort zu eigen, das er immer wieder gepredigt hat: ‚Ich freue mich der Leiden, die ich für euch erdulde, und ich ergänze dadurch, was an den Leiden Christi noch fehlt.’ Ich bin sicher: Der Papst denkt ständig daran. Vielleicht kann der leidende Papst der Kirche sogar sehr viel mehr geben als vorher, als es ihm noch gut ging."[41]

Zumindest in einer Hinsicht ist man versucht, Kardinal Tucci Recht zu geben, denn ganz offensichtlich hat das langsame öffentliche Sterben des Papstes der Kirche insofern genutzt, als dass es zu einem kollektiven Hirntod bei Hunderttausenden von Journalisten geführt hat. Die Medien überschlugen sich derart darin, unkritische Lobpreisungen auf Johannes Paul II abzusondern[42], dass man den Eindruck gewinnen konnte, mit. Karol Wojtyla sei der „geliebte Führer“ einer Diktatur im Stile von Orwells 1984 gestorben.[43]

Wenn überhaupt kritische Aspekte am Rande erwähnt wurden, so bezogen sie sich meist nur auf Wojtylas doktrinäre Positionen auf dem Gebiet der Sexualethik (Verdammung „künstlicher“ Verhütungsmittel, Zölibat, Ablehnung von Frauen im Priesteramt etc.). Doch Karol Wojtyla war keineswegs der nette fromme Onkel von nebenan mit der leider allzu rigiden Sexualmoral, als der er vom Boulevardjournalismus verkauft wurde („Das mit den Kondomen war ja schon ziemlich blöd, aber schaut mal, wie schön der Papst früher lächeln konnte!“). Ebenso wenig war er der „löwenhafte Kämpfer für Freiheit und soziale Gerechtigkeit“, den die vermeintlich seriöse Presse erkannt zu haben glaubte.  Karol Wojtyla war vielmehr ein beinharter katholischer Fundamentalist, der, gleich, was er tat,  keinen Deut von der dogmatisch vorgegebenen Tradition der katholischen Kirche abgewichen ist.[44]

Was den polnischen Papst bei allem Traditionalismus modern erscheinen ließ, war, dass er es meisterhaft verstand, die aus der wissenschaftlich-technischen Evolution erwachsenen Instrumente der Massenkommunikation zu nutzen, um sich weltweit als absoluten Herrscher mit charismatischen Zügen vermarkten zu können.[45] Zweifellos lieferte das einstige Schauspieltalent Wojtyla zur Untermauerung seiner Botschaft starke Bilder (erinnert sei beispielsweise an seine Besuche in Moschee und Synagoge). Ihn deshalb aber gleich als Vorreiter der Modernität zu verstehen, würde bedeuten, das Medium mit der Botschaft zu verwechseln.

Wer sich von der oberflächlichen Welt der Bilder nicht täuschen ließ, für den war klar: Wenn Wojtyla den Dialog mit Vertretern anderer Religionen oder Konfessionen suchte, so nicht, weil er von der Relativität der eigenen Glaubenssetzungen überzeugt war (das genaue Gegenteil war der Fall!), sondern weil er auf diese Weise Verbündete im Kampf gegen die „Gottlosigkeit“ gewinnen bzw. die Idee der Einheit der Christenheit (selbstverständlich unter vatikanischer Führung!) vorantreiben wollte. Wenn er sich für Veränderungen im Osten stark machte, so tat er dies nicht, weil er ein großer Freund der „offenen Gesellschaft“ war, sondern weil er (gerade vor dem Hintergrund der Fatimaoffenbarungen!) glaubte, dies sei ein wesentlicher Schritt hin zur vollständigen Christianisierung aller Völker und Nationen. Wenn er den Kapitalismus geißelte, so hatte er dabei keinesfalls an erster Stelle das Problem der Verelendung im Blick (ein Aspekt, der nach Oswald von Nell-Breunings Beschäftigung mit Marx[46] zwar in den Fundus der katholischen Soziallehre einging[47], aber kaum Einfluss auf die Politik und das Finanzgebaren des Vatikans[48] hatte), ihn beschäftigte vielmehr der unter kapitalistischen Vorzeichen angeblich voranschreitende „Verfall der Sitten“. Wojtyla wünschte sich selbst, die Kirche und die Welt angesichts der Allgegenwart von Pop & Porno sowie der Dominanz des kalten Tauschwertprinzips zurück in die „guten alten Zeiten“ (die freilich nur für die wenigsten „gut“ gewesen waren). Genau genommen beanstandete er in seiner Kapitalismuskritik vor allem jenen Rationalisierungsprozess, den Marx und Engels einst als historischen Fortschritt des Kapitalismus gegenüber dem Feudalismus gefeiert hatten: „Die Bourgeoisie […] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.”[49]

Doch kommen wir zurück zu den offenkundigen Fehlinterpretationen der Medien: Diese waren und sind darauf zurückzuführen, dass die meisten Kommentatoren schlichtweg keine Ahnung von den theologischen Hintergründen hatten, die Wojtylas Denken und Handeln bestimmten. Deshalb zimmerten sie sich – aus der Not geboren – ein menschlich-allzumenschliches Papstbild zurecht, das mit dem Original nur sehr wenig zu tun hatte. Wojtyla selbst wird man das allerdings kaum ankreiden können, denn er hat in seinen vielen Reden und Schriften eigentlich recht deutlich gemacht, um was es ihm ging.

Ohnehin wird man dem bis zum Ende unverzagt kämpfenden Papst in einem streng moralischen Sinne wenig vorwerfen können. Denn unterstellt man für einen Moment spaßeshalber, dass Wojtylas Grundannahmen richtig gewesen wären, nämlich a) dass die Welt trotz Hitler, Hunger, Haarausfall tatsächlich von einem allwissenden, allmächtigen, allgütigen Gott geschaffen wurde, b) dass dieser Gott seine Liebe zur Menschheit ausgerechnet dadurch bezeugte, dass er einen Teil seiner selbst (Gottessohn) von einer antiken Besatzungsmacht hinrichten ließ, c) dass sich in der Tradition der katholischen Kirche exklusiv der Heilsplan dieses Gottes widerspiegelt und d) dass jede Abkehr von diesem heiligen Weg mit ewigen Höllenqualen bestraft wird – so müsste man vielleicht tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass der polnische Pontifex in seinem Leben alles bestens gemacht habe![50] Vor diesem Hintergrund hätte er sich seinen Heiligenstatus, der ihm gewiss bald schon zugesprochen wird, in der Tat redlich verdient.

Der Haken an der Sache ist natürlich, dass man selbst bei größter Willensanstrengung keinerlei vernünftige Argumente finden wird, die für die Richtigkeit der päpstlichen Grundannahmen sprechen würden. Im Gegenteil: Legt man die wissenschaftlichen Wahrheitskriterien „Logik“ und „Empirie“ an[51], müssen Wojtylas Grundannahmen heute als ähnlich absurd erscheinen wie die einst von religiöser Seite so hartnäckig verteidigte Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe.[52]

Insofern darf man es vielleicht als eine „Gnade der Natur“ werten, dass Johannes Paul II., als er am Abend des 2. April die Schwelle zum Tod übertrat, nicht mehr registrieren konnte, dass sein lebenslanges Kämpfen und Ringen für die vermeintliche „Sache des Herrn“, umgangssprachlich formuliert, „für die Katz“ gewesen ist. Wir dürfen annehmen, dass er im Tod von eben jener Tatsache profitierte, die er zeitlebens mit größtem Nachdruck leugnete, jene Tatsache nämlich, für die schon Epikur (rund 300 Jahre vor der Geburt des vermeintlichen „Erlösers“!) eine treffende Formulierung gefunden hatte: „Wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr“.[53]

Soll man es bedauern, dass Wojtyla die empirische Falsifikation seines Glaubens nicht mehr wahrnehmen konnte bzw. musste? Ich meine: Nein. So scharf die Kritik am intellektuell wie politisch verheerenden Spuk des Christentums im Allgemeinen und der wundersamen Welt des Karol Wojtyla im Besonderen auch immer ausfallen muss – als Humanisten sollten wir auf Rachegefühle gegenüber anders denkenden, anders fühlenden und handelnden Personen verzichten können (schließlich ist jeder von uns notwendigerweise in seiner eigenen Erlebniswelt gefangen[54]). Deshalb sei es dem frommen Karol Wojtyla von Herzen gegönnt, dass er die Gewissheit des Todes anstelle der „ewigen, himmlischen Freude“ nicht hat „erleben“ müssen. Eine derartig katastrophale Enttäuschung aller Hoffnungen am Ende des Lebens hat niemand verdient – nicht einmal der abergläubische alte Mann aus Wadowice…

 

Anmerkungen

[1] Zu den biographischen Angaben siehe u.a. Wojtyla, Karol (1981): Erziehung zur Liebe. Stuttgart; oder Bernstein, Carl/Politi, Marco (1998): Seine Heiligkeit Johannes Paul II. Macht und Menschlichkeit des Papstes. München.

[2] siehe etwa Mynarek, Hubertus (2005): Das Vermächtnis des Papstes? In: Aufklärung und Kritik 1/2005.

[3] Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Reagan und Wojtyla siehe Bernstein/Politi, S. 425-434

[4] Der Umstand, dass der Vatikan die Obduktion des Leichnams untersagte, nährte Gerüchte, Johannes Paul I. sei nicht eines natürlichen Todes gestorben (siehe beispielsweise: Yallop, David (1988): Im Namen Gottes? Der mysteriöse Tod des 33-Tage-Papstes Johannes Paul I. München). Kritisch äußerte sich dazu der Pathologe Hans Bankl in seinem Buch: „Viele Wege führten in die Ewigkeit. Schicksal und Ende außergewöhnlicher Persönlichkeiten“ (Wien 1992).

[5] Zitiert nach Blondiau, Heribert/Gümpel, Udo (1999): Der Vatikan heiligt die Mittel. Mord am Bankier Gottes. Düsseldorf, S.165

[6] a.a.O., S.150

[7] siehe Blondiau/Gümpel, S.145f., vgl. auch Bernstein/Politi S. 380-393, 425-434

[8] Blondiau/Gümpel, S.167f.

[9] a.a.O., S.82ff.

[10] Zeugenaussage Clara Calvis im Oktober 1982, zitiert nach: Hutchison, Robert (1996): Die heilige Mafia des Papstes. Der wachsende Einfluss des Opus Dei. München, S.315

[11] vgl. Blondiau/Gümpel, S.225

[12] a.a.O, S.23.

[13] vgl. Blondiau/Gümpel, S.25f.

[14] Hutchison, S. 314

[15] Blondiau/Gümpel, S.26.

[16] a.a.O., S.234

[17] siehe das Interview mit Haig in Blondiau/Gümpel, S.154

[18] Bernstein/Politi, S.426

[19] vgl. etwa Hutchison 1995

[20] siehe hierzu u.a. Hertel, Peter (1991): „Ich verspreche euch den Himmel“. Geistlicher Anspruch, gesellschaftliche Ziele und kirchliche Bedeutung des Opus Dei. Düsseldorf; Hertel, Peter (1995): Geheimnisse des Opus Dei. Geheimdokumente - Hintergründe - Strategien. Freiburg; Mettner, Matthias (1995): Die katholische Mafia. Kirchliche Geheimbünde greifen nach der Macht. München.

[21] Wer noch leise Zweifel am autoritären Führungsstil Wojtylas und seines Mannes für die unfeinen Angelegenheiten, Kardinal Ratzinger, gehabt haben sollte, wurde spätestens durch die „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“ (Donum Veritatis vom 24. Mai 1990) eines Besseren belehrt. Die kritische Kommentierung dieser zutiefst undemokratischen und wissenschaftsfeindlichen Schrift durch Johannes und Ursula Neumann (Neumann, Ursula/Neumann, Johannes (1990): Theologie als Glaubensgehorsam. Schriftenreihe der Humanistischen Union, München) ist auch heute noch, 15 Jahre später, höchst lesenswert. Vor allem macht sie deutlich, warum Theologie an Universitäten nichts zu suchen hat. (Vielen Dank in diesem Zusammenhang an Prof. Dr. Johannes Neumann, der mir viele aufschlussreiche Materialien zum Pontifikat Johannes Paul II. zusandte, auch wenn ich in diesen Überblicksartikel längst nicht alles einarbeiten konnte. Allein das Thema „Der Papst und die Frauen“, mit dem sich Ursula Neumann zeitweise intensiv beschäftigt hat, wäre einen eigenen Artikel wert gewesen.)

[22] Escriva, Josemaria (1982): Der Weg. Köln, Spruch Nr. 941

[23] Dies fand auch seinen Ausdruck in dem 1992 erschienenen, für alle katholischen Gläubigen verbindlichen „Katechismus der katholischen Kirche“.

[24] vgl. MIZ, S.44f.

[25] Zur politischen Bedeutung der marianischen Strömungen siehe u.a. Deschner, Karlheinz (1987): Morden mit Maria. In: Deschner, Karlheinz: Opus Diaboli. Reinbek, S. 231-240

[26] Nachfolgende Darlegungen und Zitate beruhen auf dem offiziellen Dokument des Vatikans vom 26. Juni 2000, das der „Heilige Stuhl“ auf seinen Internetseiten in sechs Sprachen zur Verfügung stellt: Kongregation für die Glaubenslehre (2000) (Hrsg.): Die Botschaft von Fatima. Vatikan. Internetadresse der deutschen Fassung:

http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_....

[27] vgl. Schmidt-Salomon, Michael (1999): Erkenntnis aus Engagement. Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne. Aschaffenburg, S.226f.

[28] Im Matthäusevangelium, Verse 13,41-43, heißt es wörtlich: „Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.“

[29] Zitiert nach Kongregation für die Glaubenslehre 2000

[30] ebenda

[31] Das dritte Geheimnis von Fatima wurde erst im sog. „Heiligen Jahr“ in dem entsprechenden Dokument der Kongregation für die Glaubenslehre weltweit veröffentlicht, siehe Kongregation für die Glaubenslehre (2000)

[32] ebenda

[33] ebenda

[34] ebenda

[35] Deschner, Karlheinz (1994): Ärgernisse. Aphorismen. Reinbek, S.73

[36] Wie wundersam-abergläubisch die Welt des Karol Wojtyla war, verrät allein die Zahl seiner 1820 Selig- und Heiligsprechungen. Rund zweitausend Mal müssen hierfür supranaturalistische Ereignisse, also „Wunder“, stattgefunden haben, was umso beachtlicher ist, wenn man bedenkt, dass die James Randi Educational Foundation seit Jahren vergeblich darauf wartet, das Preisgeld von einer Million Dollar für den Beweis eines einzigen, wissenschaftlich dokumentierten, paranormalen Ereignisses auszugeben…

[37] Niewiadomski, Jozef (1991): „Wohl tobet um die Mauern…“ Fundamentalistische katholische Gruppierungen. In: Kochanek, Hermann (Hrsg.): Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen. Freiburg, S.168

[38] In der päpstlichen Bulle „Mit sehr großer Hoffnung“ heißt es wörtlich „Mit sehr großer Hoffnung richtet die Kirche ihre Aufmerksamkeit und mütterliche Fürsorge auf das Opus Dei, das der Diener Gottes Josemaria Escriva de Balaguer am 2. Oktober 1928 – durch göttliche Eingebung – in Madrid gründete…“ (zitiert nach: Hutchison, S.333)

[39] Escriva, Spruch Nr. 208

[40] zitiert nach dem Newsletter von Radio Vatikan vom 29.3.2005

[41] Newsletter von Radio Vatikan vom 31.3.2005

[42] Selbst bei den Kommentatoren vermeintlich kritisch-distanzierter Zeitungen und Magazine fielen in Folge des päpstlichen Siechtums anscheinend zentrale Hirnregionen aus. So veröffentlichte Matthias Matussek im Spiegel (vor allem Spiegel-online) eine dümmliche Papst-Kantate nach der anderen. Den Höhepunkt aber bildete jener taz-Kommentar von Robin Alexander, in dem Karol Wojtyla als unverstandener Modernist verkauft und die Aufklärung für Auschwitz verantwortlich gemacht wurde (siehe hierzu den „Offenen Brief der Giordano Bruno Stiftung an die taz-Redaktion“ vom 3.5.2005).

[43] Vielen Dank an Max Kruse, der diesen treffenden Vergleich in einer Mail an den Verfasser heranzog, um die mediale Berichterstattung zum Papsttod zu charakterisieren.

[44] Mit welchem Recht hätte er auch fundamentale Dogmen der Kirche in Frage stellen können? Wer derartiges von irgendeinem Papst fordert, beweist damit nur, dass er die fundamentalen Prinzipien des katholischen Glaubens offenkundig nicht verstanden hat.

[45] Insofern ist es durchaus symptomatisch, dass sich sein letztes apostolisches Schreiben „Die schnelle Entwicklung“ vom Januar 2005 an die „Verantwortlichen der sozialen Kommunikationsmittel“ wendete.

[46] Siehe beispielsweise Nell-Breuning, Oswald von (1990): Unbequeme Grenzziehungen. Streitschriften von Oswald von Nell-Breuning. Köln.

[47] Von besonderer Bedeutung ist hier die von Nell-Breuning verfasste, als Enzyklika Pius’ XI. erschienene Schrift „Quadragesimo anno“ von 1931.

[48] siehe hierzu die bereits zitierten Bücher von Hutchison, Blondiau/Gümpel, sowie Raith, Werner (1993): Eiszeit im Vatikan. München; bzw. Roth, Jürgen/Ender, Berndt (1995): Geschäfte und Verbrechen der Politmafia. Aschaffenburg.

[49] Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848/1974): Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx/Engels Werke (MEW). Berlin, Bd. 4, S.464f.

[50] Freilich: Aus dem unterstellten Wissen um die tatsächliche Existenz Gottes und seines menschenfresserischen „Heilsplans“ ließe sich auch das genaue Gegenteil ableiten, nämlich die Notwendigkeit einer radikalen Revolte gegen einen solchen Tyrannengott. Allerdings ist eine derartig prometheische Haltung wohl allein Romanhelden wie Jan Stollberg („Stollbergs Inferno“) vorbehalten.

[51] vgl. Schmidt-Salomon, Michael (2003): Was ist Wahrheit? Das Wahrheitskonzept der Aufklärung im weltanschaulichen Widerstreit. In: Aufklärung und Kritik 2/2003.

[52] Auch wenn Gläubige solche Erkenntnisse gerne ausblenden: Die wissenschaftliche Kosmologie hat uns ein Bild des Universums geliefert, das mit der Annahme eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Schöpfergottes nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Zudem wurden im Zuge der historischen Forschung der Jesusmythos radikal entzaubert, die kirchliche Heilsgeschichte als Kriminalgeschichte entlarvt und der biblische Höllenglaube auf historische Vorläufermodelle zurückgeführt. Der christliche Glaube kann in jeglicher Hinsicht als theoretisch widerlegt betrachtet werden. Allerdings wäre es ein verhängnisvoller rationalistischer Fehlschluss, würde man annehmen, dass er damit auch praktisch erledigt sei

[53] Epikur (ca. 300 v.u.Z./1988): Philosophie der Freude. Briefe, Hauptlehrsätze, Spruchsammlung, Fragmente. Frankfurt/M., S.55

[54] vgl. u.a. Schmidt-Salomon 1999, S.290-308